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Hochsensitivität und Traumatisierung

Abgrenzung und Gemeinsamkeiten


Oft finden sich hochsensitive Menschen damit konfrontiert, dass ihnen Diagnosen gestellt werden, die ihrer Begabung nicht gerecht werden. Ja oft kommt es sogar zu dezidierten Fehldiagnosen aufgrund von fehlerhafter Deutung des Umgangs mit der Hochsensitivität (HS). Oft wird HS auch als ausschließliche Folge von Traumatisierungen dargestellt und nicht als wesentliche Eigenschaft der Person. HS wird also auch als „heilbar“ angesehen. Das verunsichert viele Menschen, die ihre Hochsensitivität erkennen und noch nicht einordnen können.


Es stellt sich also die Frage, inwieweit HSP „nur traumatisiert“ sind oder ob es auch Faktoren gibt, die eindeutig angeboren und nicht „erworben“ sind. Dazu zwei (sehr verkürzte) Falldarstellungen:


Frau Mitte 50, Kindheit extrem von Missbrauch, Gewalt und physischem und psychischen Terror geprägt, entwickelt (u. a.) intensive Hochsensitivität, die in einer pathologischen Hyperakusis (eine pathologisch gesteigerte Überempfindlichkeit des Gehörs) gipfelt. Es ist nicht zu erwarten, dass diese wieder „verschwindet“, falls ihr Trauma auflösbar ist.


Mann, Ende 40, angenehme, etwas überfürsorgliche Kindheit, hielt schon als Kind bestimmte Reize (akustische und visuelle) nicht gut aus und spürte schon sehr früh die Stimmungen in seiner Umgebung, vor allem ob jemand authentisch ist oder eben nicht. Es lag damals keine traumatisierende Situation vor. (Seine Mutter zeigt Anzeichen von HS.)


Es sind also beide „Ursachen“ beobachtbar - die genetisch bedingte und die "erworbene" Hochsensitivität.


Es taucht außerdem immer wieder die Idee auf, dass es ja auch vorgeburtliche Traumata gibt, HS also nicht unbedingt tatsächlich „ererbt“ ist. Das mag durchaus vorkommen, kann aber unterschieden werden, wenn man die Persönlichkeit von Eltern und/oder Großeltern exploriert. Oft zeigen gerade die vorangehenden Generationen schon deutliche Anzeichen von HS. An dieser Stelle allerdings auch ein Hinweis auf die relativ neuen Forschungen in Bezug auf die Epigenetik, die festgestellt hat, dass Traumata durchaus genetisch gespeichert und somit auch auf folgende Generationen weiter gegeben werden. (Second Generation Victims etc.)


Diese beiden Formen zu unterscheiden, ist Aufgabe der Diagnostik, wirkt sich aber in keinster Weise auf den Umgang mit Hochsensitivität aus, da beide gleichermaßen davon betroffen sind.

Im therapeutischen Kontext gilt es allerdings sehr wohl, traumatisierte Menschen anders zu behandeln. Hier gilt es vor allem zuerst Trigger und andere Auslösefaktoren zu identifizieren und sie neutralisierbar zu machen, um ein gutes Leben zu ermöglichen. (Was aber nichts an der HS ändert!).


Es gibt einen beobachtbaren Aspekt, der beachtenswert ist, nämlich, dass Menschen mit „angeborener“ HS Ereignisse, die anderen nicht sehr gravierend erscheinen, sehr wohl bereits als Trauma erfahren. Da ja ihre sensorische Wahrnehmung schon um einiges intensiver ist einerseits und andererseits die Reizverarbeitung wesentlich komplexer ist, kann es dazu kommen, dass physische und psychische Erfahrungen für HSP traumatischere Eindrücke hinterlassen, als das bei anderen Menschen der Fall ist. Dieser Aspekt wird meines Wissens sehr selten in dieser Debatte mit eingebracht, ist aber sehr wohl der genaueren Untersuchung wert. Für TherapeutInnen ist das oft eine Herausforderung, das nicht nur zu unterscheiden sondern auch diese Besonderheit überhaupt anzuerkennen.


Noch ein Wort zu Diagnostik und Therapie:


Die meisten (psychiatrischen) Diagnosen werden von Menschen erstellt, die keine Kenntnis über HSP haben und die „Symptome“ daher anders einschätzen. Für manche mag eine Diagnose hilfreich sein, da sie nun endlich wissen, was sie „haben“. Allerdings ist meine Erfahrung als Psychotherapeut oft die, dass diese Menschen eher in die Irre geleitet und falsch behandelt werden. In manchen Fällen kommt es sogar zu einer regelrechten Traumatisierung durch die Diagnose und die ausschließlich darauf ausgerichtete Therapie.


Es ist dann oft eine große Erleichterung, ihnen die Möglichkeit einer Hochbegabung (und keiner „krankheitswertigen Störung“, wie das auf Fachchinesisch genannt wird) zu eröffnen, was einen Therapieprozess oft sehr positiv beeinflusst.


Diagnosen werden aufgrund von Symptomen erstellt. In der Anamnese wird versucht, Herkunftsfaktoren ausfindig zu machen. Dann wird dieses Bild mit einem vorgegebenen Schema (z. B. ICD 10 etc.) abgeglichen. Das funktioniert, wenn man als Therapeut/-in sorgfältig arbeitet meist ganz gut, oft wird aber zu sehr auf Symptomatik geachtet und der ganze Mensch zu wenig wahrgenommen. Bei HSP kommt noch hinzu, dass viele ja tatsächlich als Reaktion und/oder als Anpassungsleistung (an die Gesellschaft) zuordenbare psychische und psychosomatische Erkrankungen entwickeln. Diese werden dann oft vordergründig behandelt, ohne weiter auf die eigentliche Ursache einzugehen. Dadurch fühlen sich viele HSP in Therapien auch nicht sonderlich verstanden und brechen diese immer wieder ab. Natürlich müssen Hauptsymptome, wie Depressionen, Angst- und Panikstörungen etc. auch tatsächlich behandelt werden (ebenso wie psychosomatisch entwickelte Magengeschwüre!), es dauert daher machmal ein wenig, bis man zu den eigentlichen Ursachen vordringen kann und den Heilungsprozess voranbringt.


Als Resümee möchte ich sagen, dass es in der Diagnostik und Therapie von HSP viel mehr um die Anerkennung und Wertschätzung der Hochsensitivität geht, als um genaue Ursachenforschung. Denn nur, weil ich die Ursache (er)kenne, haben sich meine Probleme noch nie gelöst. Es mag erleichternd sein, zu wissen, DASS man eine HSP ist, selten hilft es, zu wissen WARUM. (Stichwort Retraumatisierung.) Was wirklich hilft, ist sich als begabter und einzigartiger Mensch anerkennen zu lernen, egal, wie es zu dieser besonderen Begabung gekommen ist.

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