Berufliche Neuorientierung für hochsensible Menschen
- Sandra Schlicke
- 28. Okt.
- 8 Min. Lesezeit
Wie du als HSP einen Job findest, der wirklich zu dir passt
Warum eine klare berufliche Neuorientierung für hochsensible Menschen so wichtig ist
Lebensläufe von hochsensiblen Personen (HSP) sind öfters turbulent und von mehreren Jobwechseln geprägt. Oft wird eine Logik erst nach einer beruflichen Beratung sichtbar. Andere bleiben sehr lange im gleichen Job, obwohl sie sich ´anders´ fühlen. Nicht selten, weil genau das Spuren am Selbstbewusstsein hinterlässt und damit Zweifel, ob eine Neuorientierung überhaupt Sinn macht. Hochsensibilität ist keine Diagnose, sondern ein ganz normales Persönlichkeitsmerkmal, das auch viele Vorteile mit sich bringt. Im Job sind jedoch viele mit reichlichen Herausforderungen konfrontiert, bis sie am richtigen Platz ankommen. Dauerhafte Reizüberflutung, fehlende Wertschätzung oder ein Mangel an Sinn führen häufig dazu, dass sich hochsensible Menschen öfters innerlich leer fühlen, obwohl sie nach außen „funktionieren“.
Ein wichtiger Faktor für Arbeitszufriedenheit ist das richtige Maß an Stimulation, um Unter- oder Überforderung zu vermeiden. Stimulation ist im Grunde genommen, jeder Reiz, jede Anregung und jeder Eindruck, den HSP erhalten. Ganz egal, ob diese von außen, aus der Umgebung oder von innen, von eigenen Gedanken oder Gefühlen kommen. Es geht vor allem bei hochsensiblen Menschen um das richtige Maß. Nicht selten kommt es vor, dass HSP mit Erschöpfungssymptomen in der Beratung sitzen und nicht Überforderung, sondern Unterforderung der Auslöser ist. Die Folgeerscheinungen sind jedoch zu Beginn sehr ähnlich.
Eine berufliche Neuorientierung als hochsensible Person ist eine Chance, sich selbst besser kennenzulernen, eigene Werte zu leben und einen Job zu finden, der wirklich erfüllt. Der Prozess der beruflichen Neuorientierung kann aber auch einfach ein wichtiger Schritt in der eigenen Persönlichkeitsentwicklung sein, sich selbst und eigene beruflichen Bedürfnisse besser kennenzulernen, um damit berufliche Rahmenbedingungen besser einzuordnen und um machbare Kompromisse bewusst eingehen zu können. Erst mit ausreichend Klarheit kann man sich für oder gegen etwas entscheiden.
Schritt 1: Finde heraus, was du wirklich willst
Reflektiere deine Bedürfnisse und Werte
Als hochsensible Person brauchst du einen Job, der dich emotional und mental nährt sowie zumindest den Großteil der Arbeitszeit ein ausgewogenes Maß an Stimuli mit sich bringt. Das umfasst nicht nur die Arbeitsumgebung in Bezug auf Lärm und äußere Reize, sondern eben auch das innere Gefühl: Hier darf ich sein, wer ich bin, die Aufgaben machen Sinn und ich trage etwas zum großen Ganzen bei. Um herauszufinden, wohin deine Reise gehen soll, kannst du dir folgende Fragen stellen:
Wann fühle ich mich inspiriert und im Flow?
Welche Aufgaben kosten mich besonders viel Energie?
Was brauche ich um ein Leben zu führen, das meinen Bedürfnissen entspricht?
Wie viel Struktur oder Freiheit brauche ich, um gut zu funktionieren?
Was fordert oder überfordert mich?
Schreibe deine Antworten am besten auf. Du wirst schnell Muster erkennen und spüren, was dich wirklich erfüllt. Diese Selbstreflexion ist der erste und wichtigste Schritt auf deinem Weg der beruflichen Neuorientierung.
Schritt 2: Entdecke deine Kompetenzen zwischen den Zeilen
Was kannst du wirklich gut und was macht dir auch Freude
Neben den Fakten in deinem Lebenslauf, wie Ausbildungen, konkrete Tätigkeiten aus Stellenbeschreibungen sowie Zertifikaten und Zeugnissen, die du in deinen Bewerbungen auch zeigst, verstecken sich so viele Kompetenzen und Stärken zwischen den Zeilen. Viele davon sind so selbstverständlich für dich, dass du sie gar nicht bewusst wahrnimmst und damit auch nicht sichtbar machst.
Deshalb reflektiere für dich:
Welche Aufgaben oder Tätigkeiten, die nicht in deinen Stellenbeschreibungen stehen, übernimmst du ganz selbstverständlich, weil du sie nicht nur gut, sondern auch gerne machst?
Welche Rollen nimmst du besonders gerne ein? Denke dabei nicht nur an den Job, sondern auch an dein privates Umfeld. Wann und in welcher Rolle fühlst du dich am wohlsten?
Wie bereits erwähnt, spielt bei hochsensiblen Menschen der Sinn in dem was sie tun eine wichtige Rolle. Auch wenn routinierte Tätigkeiten, die wenig Stress oder zusätzliche Belastungen mit sich bringen, ein gangbarer Weg wären, brauchen hochsensible Menschen dennoch eine Aufgabe, die sie erfüllt und auch in angemessener Weise fordert. Dazu aber im nächsten Schritt mehr. Unterforderung bringt in der Regel die gleichen Erschöpfungsanzeichen mit sich wie Überforderung. Deshalb braucht es hier eine ehrliche Reflexion, welche Kompromisse du bereit bist einzugehen?! Denn Kompromisse sind grundsätzlich nichts Schlechtes, insbesondere wenn der Arbeitsmarkt gerade turbulent ist. Es ist lediglich wichtig, dass du Kompromisse mit dem Bewusstsein eingehst, dass du dich klar für die übrigen Rahmenbedingungen entschieden hast. Diese Klarheit stärkt dich im Umgang mit Gegebenheiten, die nicht so passen. Du kannst dir als praktikables Beispiel, eine Pro- und Kontra-Liste schreiben und alle aufgezählten Punkte mit einer Wertung verstehen. Also von einer Skala 1-5 (1=sehr wichtig, 5=weniger wichtig), welche Bedeutung haben die einzelnen Punkte. Damit schaffst du sehr viel Klarheit für eine Entscheidung und du kannst dich auf mögliche Kompromisse vorbereiten.
Schritt 3: Gestalte dein ideales Arbeitsumfeld
Finde den Arbeitsplatz, der zu deiner Persönlichkeit passt
Für hochsensible Menschen ist nicht nur die Tätigkeit entscheidend, sondern auch das Umfeld, in dem sie arbeiten. Ein stimmiges Arbeitsumfeld wirkt wie ein Schutzraum, indem sie Stärken entfalten können. Nicht selten fühlen sich HSP ´anders´, weil sie mehr wahrnehmen oder oft auch ´anders´ wahrgenommen werden, insbesondere dann, wenn sie gelernt haben, auf eigene Bedürfnisse zu hören. Klingt paradox, aber ich möchte ein Beispiel dazu nennen:
Viele hochsensible Menschen, die gelernt haben für sich zu sorgen, nehmen sich Auszeiten oder den notwendigen Raum für Ausgleich oder Entspannung, auch am Arbeitsplatz. Das kann der Spaziergang in der Mittagspause sein, der große Bogen um Smalltalk Runden oder eine distanzierte Haltung den Kolleg:innen gegenüber, denen man sich weniger zugehörig fühlt. Sei es um sich vor ´zu viel´ abzugrenzen oder um die Privatsphäre zu bewahren. Meistens nehmen hochsensible Menschen die Stimmungen anderer sehr genau wahr oder erkennen zwischenmenschliche Unstimmigkeiten früher als viele andere. Das macht eine subjektive Einschätzung der Situation in vielen Fällen auch leichter. Um andere Menschen zu verstehen und sie einschätzen zu können, brauchen Menschen die Information aus verbaler und nonverbaler Kommunikation. Das kann durch ein direktes Gespräch erfolgen oder durch Dritte. Wenn genau diese Informationen jedoch fehlen, weil sich hochsensible Menschen schützen und auf der Sachebene bleiben oder Personen aus dem Weg gehen, werden sie nicht selten zur Projektionsfläche von Interpretationen oder Unsicherheiten. Hochsensible Menschen haben es zumindest diesbezüglich etwas einfacher, weil sie wie bereits erwähnt viel mehr Informationen von Menschen aufnehmen, Gespräche nebenbei registrieren und diese vernetzen. Auch wenn diese Informationen auch von Interpretationen geprägt werden können, fällt es hochsensiblen Menschen leichter, andere zumindest subjektiv einzuschätzen und einzuordnen. Und das reicht für ein sachliches Miteinander. – Das Gefühl ´anders´ zu sein, bleibt jedoch. – Insbesondere wenn die Folge ist, ausgeschlossen zu werden. Denn Abgrenzung erzeugt eben auch für viele nicht hochsensible ein Außenbild von Arroganz, Desinteresse oder fehlende Sympathie.
Überlege dir deshalb:
Brauchst du Ruhe oder kreative Abwechslung?
Fühlst du dich in kleinen Teams wohler als in großen Strukturen?
Ist dir Flexibilität wichtiger als Hierarchie?
Welche Unternehmenskultur passt für dich?
Statt Ausgrenzung, Abschirmung oder Abgrenzung entscheide dich lieber für eine Umgebung, die zu dir passt.
Vielleicht erkennst du, dass du dich in einem sozialen, kreativen oder selbstbestimmten Beruf wohler fühlst. Manche Hochsensible finden Erfüllung in einer selbstständigen Tätigkeit, andere blühen auf, wenn sie in einem wertschätzenden Team mit klaren Abläufen arbeiten. Wichtig ist, dass du dich authentisch zeigen kannst und dir klar darüber bist, was du beruflich brauchst.
In welchen Berufen sich hochsensible Menschen sehr oft wiederfinden
Viele hochsensible Menschen, die mit ihrem Job langfristig zufrieden sind arbeiten in kreativen, kulturellen oder helfenden Berufen. Wobei auch hier besonders auf die notwendige Abgrenzung auf Grund der starken Wahrnehmung und Empathie zu achten ist. Auch in mathematischen Branchen oder Bereichen in denen Logik und logische Vorgänge verlangt werden, finden sich viele hochsensible Menschen.
Meiner Erfahrung nach sind vor allem berufliche Nischen oder ´Spezialisten-Funktionen´ sehr empfehlenswert. Hier können hochsensible Menschen eine eigene passende Arbeitsstruktur schaffen, sie haben wenige Schnittstellen und damit mehr Freiraum in der Arbeitsgestaltung. Bestenfalls können sie sinnorientiert und intrinsisch arbeiten. Das heißt, motiviert durch positive innere Antreiber. Auch in der Lehre oder in der Erwachsenenbildung finden sich viele hochsensible Menschen. Ich habe beobachtet, dass Schulen oder die Arbeit mit Kindern auf Grund des hohen Lärmpegels kein ideales Arbeitsumfeld mit sich bringen, auch wenn die Tätigkeit oder der Inhalt sehr stimmig wären. Wesentlich besser ist die Erwachsenenbildung, indem es klare Regeln und vorgegebene Strukturen gibt, an die sich Erwachsene in der Regel alle halten. Die Weitergabe von Wissen ist hochsensiblen Menschen sehr oft als Talent in die Wiege gelegt. Sie erkennen welche Inhalte und in welcher Form das Gegenüber Wissen benötigt.

Die Herausforderung von Scannern in der beruflichen Neuorientierung
Nicht zu vergessen sind auch die Scanner unter den Hochsensiblen. Scanner-Persönlichkeiten haben eine breite Palette an Interessen und Talenten. Sie haben Schwierigkeiten, sich auf nur eine Sache zu konzentrieren. Diese Kombination kann zu einer einzigartigen Kreativität und Innovationskraft führen, birgt aber auch das Risiko der Überforderung durch die ständige Flut an Reizen und Informationen. In etwa 10% der Bevölkerung sind Scanner-Persönlichkeiten. Die Kombination Hochsensibel und Scanner Persönlichkeit ist keine Seltenheit.
Für hochsensible Personen ist in der Regel Klarheit wichtig. So zu sagen als Prävention vor Reizüberflutung. Hochsensible Scanner-Persönlichkeiten interessieren sich aber für unterschiedlichste Themen in der Tiefe und auf Grund der Fülle kann schon mal die Klarheit verlorengehen.
Ich arbeite deshalb sehr gerne mit dem Begriff ´Berufsfeld`. Indem hochsensible Klient:innen alle ihre Interessen bündeln und damit das berufliche Spektrum weit aufmachen, können wir Themenbereiche besser strukturieren und Zusammenhänge finden. Damit wird es einfacher einzelne Interessen unter einem ´Berufsfeld´ zu bündeln. Sehr oft können vielfältige Interessenbereiche in einem übergeordneten Themenblock also Berufsfeld zugeordnet werden. Dadurch schaffen wir gleichzeitig Klarheit und Abgrenzung von Beruf und Hobby. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt um Prioritäten zu setzen und beruflich anzukommen.
Schritt 4: Lass Perfektionismus und Zweifel los
Vertraue deiner Sensibilität als Stärke
Wenn du hochsensibel bist, kennst du sicher den inneren Kritiker, der dich ständig fragen lässt, ob du „gut genug“ bist. Besonders in Zeiten der Veränderung kann das lähmend wirken. Doch berufliche Neuorientierung ist kein Sprint, sondern ein Prozess. Es geht nicht um perfekte Lösungen, sondern um eine nachhaltige, langfristige Laufbahngestaltung die deine Bedürfnisse berücksichtigt.
Ein paar Impulse, die dir helfen können:
Werde dir bewusst, was du brauchst und wie du arbeitest, damit du Strukturen findest, in denen du dich sicher fühlst.
Du darfst Fehler machen und daraus lernen. Das heißt, es ist wichtig auch mal die Komfortzone zu verlassen. Respektiere jedoch deine Grenzen und lerne Anzeichen der Reizüberflutung oder auch Überforderung frühzeitig zu erkennen. Ich habe sehr gute Erfahrungen mit dem regelmäßigen Führen eines Tagebuchs gemacht. Situationen in denen du aus deiner Komfortzone steigst, kannst du mit notieren und deine Erfahrungen damit dokumentieren. Du bekommst dadurch ein besseres Gefühl für deine persönlichen Grenzen.
Deine Sensibilität ist kein Hindernis, sondern dein Kompass. Anstatt Selbstzweifel in dir wachsen zu lassen, weil du dich anders fühlst, starte damit auf deine Intuition zu vertrauen und setze sie wie ein ausgeprägtes Bauchgefühl für dich und deine Bedürfnisse ein.
Jeder kleine Schritt in Richtung Klarheit ist ein Erfolg. Vertrauen entsteht durch Handeln – nicht durch endloses Nachdenken. Dabei helfen Meditationsübungen oder positive Affirmationen, die du anstelle von Grübel-Gedanken einsetzen kannst.
Schritt 5: Achte auf deine Energie
Stärke deine innere Balance während der Veränderung
Während deiner beruflichen Neuorientierung ist es wichtig, gut auf dich zu achten. Hochsensible Menschen brauchen in der Regel mehr Erholungsphasen, um Eindrücke insbesondere während Veränderungsprozessen zu verarbeiten.
Hilfreiche Strategien die ich dir mitgeben möchte:
Plane regelmäßig Pausen und stille Momente ein. Eine sehr hilfreiche Übung dabei ist das Palmieren deiner Handflächen. Damit behältst du den Kontakt zu dir selbst und hältst einen Moment inne. Du massierst einfach mit dem Daumen deine Handinnenflächen, deine Finger und Handgelenke. Eine sehr einfache Übung die wirkt und dein Nervensystem beruhigt.
Sei dir bewusst, berufliche Neuorientierung ist ein Prozess und kein Sprint. Nachhaltige Lösungen brauchen Zeit und aus Fehlern können wir lernen.
Verbringe Zeit in der Natur, um dein Nervensystem zu beruhigen.
Nutze Journaling oder Meditation, um innere Klarheit zu gewinnen. Ein Beispiel dazu habe ich bereits genannt.
Umgib dich mit Menschen, die dich verstehen und inspirieren.
Wenn du in Balance bist, triffst du klarere Entscheidungen und erkennst leichter, welche beruflichen Wege wirklich zu dir passen.
Berufliche Neuorientierung für hochsensible Menschen ist ein Weg zu mehr Erfüllung
Berufliche Neuorientierung ist für hochsensible Menschen kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck von Bewusstheit. Du spürst, wenn etwas nicht mehr passt, und genau das ist deine größte Stärke! Wenn du deiner Intuition vertraust, deine Bedürfnisse ernst nimmst und mutig Schritt für Schritt gehst, findest du nicht nur einen neuen Job, sondern eine Aufgabe, die dich tief erfüllt.
Deine Hochsensibilität ist kein Hindernis, sie ist dein innerer Kompass auf dem Weg zu einem Leben, das wirklich zu dir passt.

