Wenn hochsensitive (und/oder gefühlsstarke) Kinder mit ihren Gefühlen überfordert sind… - und ihre Eltern auch!
Hochsensitive Kinder geraten oft in intensive emotionale Zustände (meist mit Tränen oder Wutanfällen verbunden!), aus denen sie ohne geduldige Begleitung durch eine Bezugsperson nur schwer wieder herauskommen.
Mögliche Auslöser mit jeweils einem Fallbeispiel* aus meiner Praxis:
Müdigkeit
Die Mutter holt den 4 - jährigen hochsensitiven Noah jeden Tag nach dem Mittagessen vom Kindergarten ab. Laut seiner Pädagogin verhält er sich in der Gruppe stets vorbildlich, freundlich und gewissenhaft. Kaum ist er jedoch in der Obhut der Mutter, kommt es so gut wie täglich zu einem Wutanfall - oft bereits in der Garderobe. Auslösende Situationen können sein, dass die Mutter ihm helfen will, seine Schuhe anzuziehen oder ihm nicht hilft, er aber an jenem Tag Hilfe erwarten würde, oder die Mutter hat die falsche Trinkflasche mitgegeben, er hätte heute lieber die grüne statt die blaue mitgehabt, oder die Mutter war um 5 Minuten später dran als sonst, oder, oder, oder… Der wahre Auslöser ist nicht speziell situationsabhängig, sondern Ursache für Noahs Wutanfälle ist seine Müdigkeit nach einem langen (für hochsensitive Kinder besonders anstrengenden) Kindergartenvormittag. Er ist vermutlich ein sicher gebundenes Kind und kaum holt ihn seine Mutter ab, „lässt er innerlich los“, seine Müdigkeit und seine Anspannung entladen sich in einem Wutanfall. Nach einer halben Stunde Buch anschauen zuhause auf der Couch geht es Noah in der Regel wieder gut.
Es ist wichtig, hochsensitiven Kindern ausreichend Gelegenheiten für Ruhephasen und Pausen zu geben!
Hunger
Dieses Fallbeispiel ist ähnlich dem oberen, nur dass die 6 – jährige Emilia nicht mehr in den Kindergarten geht, sondern die 1. Klasse Volksschule besucht. Da der Schulweg eine gefährliche Kreuzung beinhaltet, wird Emilia jeden Tag von der Schule abgeholt – meistens von der Mutter, manchmal von der Oma, die ebenfalls eine wichtige Bezugsperson für das Mädchen ist. Am Heimweg bricht Emilia fast jeden Tag in Tränen aus. Nicht immer sofort, die Tränen schießen ganz plötzlich und auch für das Kind unerwartet ein. Manchmal gibt es etwas, das Emilia vom Vormittag noch belastet (z.B. wenn ihr etwas nicht so gut gelungen ist wie sie es von sich erwartet hat, jemand gemein zu ihr war, o.ä.), manchmal aber auch nicht und dann sagt sie: „Ich weiß nicht, warum ich schon wieder weinen muss. Es kommt einfach so!“
Sowohl die Mutter als auch die Oma kennen das Mädchen gut, nehmen sie in solchen Momenten an der Hand, reden beruhigend auf sie ein und zuhause gibt es dann erst einmal ein warmes Mittagessen. Danach geht es Emilia in der Regel besser, sie hat sich beruhigt, lacht wieder und setzt sich mit Eifer an ihre Hausaufgaben.
In diesem Beispiel treffen viele mögliche Ursachen für Emilias Tränen aufeinander. Sie ist eindeutig hungrig. (Hochsensitive Kinder brauchen regelmäßige hochwertige Mahlzeiten und leider isst Emilie ihre Schuljause nicht, weil sie vor lauter Aufregung in der Schule nichts hinunterbekommt.) Gleichzeitig ist Emilia sicher auch müde von dem Vormittag und möglicherweise auch überreizt.
Überreizung
Die Eltern des 14-jährigen Lukas sind geschieden, jeden zweiten Freitag holt der Vater Lukas von der Schule ab und sie verbringen dann das Wochenende gemeinsam.
Lukas erzählt mir, sein Vater habe wenig Verständnis für seine Hochsensitivität. Der Vater meint es immer gut, letztlich bringt er Lukas aber leider sehr oft in Situationen, in denen der Jugendliche überreizt und unglücklich ist. Da er introvertiert und sehr selbstunsicher ist, seinen Vater nicht verletzen und es ihm immer recht machen will, traut er sich nicht, anzusprechen, wenn ihm etwas zu viel wird. So auch letzten Freitag, als der Vater mit ihm direkt nach der Schule mit dem Zug und der U-Bahn ins technische Museum fahren will, um ihm eine Freude zu machen. Lukas lebt in Niederösterreich und hasst Wien, vor allem die öffentlichen Verkehrsmittel. Es sind für ihn zu viele Menschen, zu viele Gerüche, zu viel Lärm, zu viel Aufregung. Das technische Museum interessiert den Jungen grundsätzlich zwar schon, trotzdem kann er sich auch dort nicht wohl fühlen an diesem Tag. Es ist alles einfach zu viel für ihn. Ein langer Schultag am Ende einer langen Schulwoche, die anstrengende Fahrt mit den Öffis und dann auch noch ein riesiges Museum! Er merkt, wie er nicht mehr kann und sagt zum Vater, er müsse dringend aufs WC. Dort schließt er sich in einer Kabine ein, ruft seine Mutter an und bricht in Tränen aus. Er schluchzt ins Handy, die Mutter versteht seine Worte nicht. Da sie ihn aber gut kennt und selbst hochsensitiv ist, findet sie irgendwie immer die richtigen Worte und kann Lukas auch in dieser Situation sehr gut beruhigen.
Für hochsensitive Menschen – egal ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener – ist es sehr wichtig, zu lernen, eigene Bedürfnisse und auch Grenzen äußern zu dürfen und „nein“ sagen zu lernen.
Überforderung
Die 10 – jährige hochsensitive Carola hat diesen Herbst mit dem Gymnasium begonnen. Für hochsensitive Kinder ist jede Umstellung meist eine große Herausforderung und der Umstieg von der Volksschule auf eine weiterführende Schule ist eine erhebliche Veränderung. Die ersten Tage im Gymnasium bekommt Carola täglich neue Infos, welche Abläufe in der neuen Schule wie aussehen werden, was sie für die verschiedenen Fächer alles besorgen soll, für welche Aktionen sie wieviel Geld von zuhause mitbringen muss, etc. etc. Die ersten Tage ist Carola noch zuversichtlich, zu Beginn der zweiten Woche bricht sie jeden Abend in Tränen aus: „Mama und Papa, mir ist das alles zu viel! Wie soll ich mir das alles je merken und was, wenn ich etwas Wichtiges vergesse?“ Nach ein paar Wochen werden die tränenreichen Abende seltener und schließlich hat sich Carola gut in ihrem neuen Schulalltag eingefunden.
Ungerechtigkeit
Der 7-jährige hochsensitive Benjamin besucht die 2. Klasse Volksschule. Er hat eine neue Lehrerin. Nach einigen Wochen bemerken seine Eltern, dass er – im Gegensatz zur 1. Klasse, in der er seine Hausübungen immer mit Freude und Eifer erledigte – am Nachmittag keine Lust hat, sich zum Schreibtisch zu setzen und das Aufgaben-erledigen-müssen fast jeden Tag in einem Schreikampf, Wutanfall oder Streit mit den Eltern endet. In einem gemeinsamen Gespräch in meiner Praxis stellt sich heraus, dass Benjamin die Freude an der Schule und am Lernen gänzlich verloren hat. Als Grund dafür gibt er an, dass seine Klasse in der großen Pause nicht mehr wie im vergangenen Jahr jeden Tag in den Garten geht. Sobald es im Unterricht „zu laut“ wird für die Lehrerin, streicht sie den Garten. Da einige sehr lebhafte Buben in Benjamins Klasse sind, ist es fast täglich „zu laut“. Sie gehen somit fast gar nicht mehr hinaus, obwohl Benjamin den Garten liebt und diese Auszeit mitten im Schultag dringend braucht. Er selbst ist in der Schule ein sehr ruhiger Bub und erlebt die „Sammelstrafe“ sowie die neue Lehrerin als äußerst ungerecht.
Schuldgefühle
Der 5-jährige hochsensitive Karli sitzt im Auto in der Mitte seiner beiden älteren (ebenfalls hochsensitiven) Schwestern und isst einen Donut mit Schokoglasur. Die älteste Schwester Silvia hat einen langen anstrengenden Schultag hinter sich und möchte ihre Ruhe. Der kleine Bruder nervt sie mit seinem Schmatzen. Bei einer Ampel dreht sich die am Steuer sitzende Mutter um und bittet Karli, weniger geräuschvoll zu essen. Im Anschluss ersucht sie Silvia, sie möge doch bitte ein Feuchttuch aus der Autotasche nehmen und ihrem Bruder geben. Karli will das selbst tun und langt mit seinen klebrigen Schokofingern Richtung Tasche, die Silvia bereits auf ihrem Schoß hat. Dabei streift Karli die Schwester mit seinen Schokofingern. Sie schreit ihn wütend an: „Na toll, jetzt hast du mich auch noch mit Schokolade angekleckert! Ich muss heute noch in den Flötenunterricht, so kann ich doch nicht hingehen!“ Karli antwortet nicht, beginnt jedoch zu knurren und hört nicht mehr auf. Silvia – müde, genervt und überreizt – bricht in Tränen aus: „Karli, ich halte das nicht aus! Sei einfach ruhig!“ Karli hört nicht, weder auf Silvia noch auf die Bitten der Mutter und knurrt weiterhin vor sich hin. Als die Mutter ihn anschreit, er möge jetzt wirklich aufhören mit diesen Geräuschen, die Schwester weine schon und sie könne sich mit dem ganzen Lärm nicht mehr aufs Autofahren konzentrieren, fängt Karli an zu schreien und sich im Sitz zu winden. Er ist wütend auf seine Schwester, auf seine Mutter, aber eigentlich wohl am meisten auf sich selbst. Er hat seine Schwester ja nicht mit Absicht angekleckert und insgeheim plagt ihn ein schlechtes Gewissen.
Hochsensitive Kinder haben sehr hohe Ansprüche an sich selbst, sind eigentlich sehr sozial und empathisch und machen „Dummheiten“ meistens nicht absichtlich. Sich für ein Fehlverhalten zu entschuldigen, fällt Karli noch sehr schwer, er kann sich selbst noch keine Fehler eingestehen. Sein Knurren und anschließend sein Wutanfall sind ein Weg, die aufgestauten Schuldgefühle auszudrücken – leider noch nicht auf konstruktive Art und Weise. Er wird in seinen nächsten Lebensjahren vermutlich lernen, seine Gefühle zu regulieren, bis dahin wird es allerdings noch mehrere Provokationen und Wutanfälle geben! Starke Gefühle regulieren zu lernen ist eine wichtige Aufgabe für alle hochsensitiven (gefühlsstarken) Kinder!
Perfektionismus
Die 3-jährige Sophie will bei ihren neuen Herbstschuhen unbedingt selbst die Masche binden. Weil sie das noch nicht kann, bietet ihr der ältere Bruder seine Hilfe an: „Soll ich dir helfen? Soll ich für dich die Masche machen?“ „NEIN!“, brüllt Sophie. Dann probiert sie eine Weile herum, bis sie schließlich die Schuhe von den Füßen reißt und gegen den Bruder schleudert. „Du bist blöd! Jetzt zieh’ ich meine Schuhe gar nicht an!“ Wutentbrannt läuft sie ins Wohnzimmer, schreit und tobt.
Hochsensitive Kinder sind oft sehr ungeduldig mit sich selbst und schnell enttäuscht, wenn ihnen etwas nicht gelingt, wie sie es sich vorstellen. Dass manche Dinge geübt werden müssen und auch nicht immer alles perfekt und sofort gelingen muss, ist eine wichtige Lernaufgabe für viele hochsensitive Kinder.
Ein paar Ideen für den Umgang mit Wutanfällen eines HSK:
· Humor
· Ablenken
· Auszeit/Abwarten
· In den Arm nehmen (wenn es das Kind zulässt)
· Strategien beibringen (z.B. „Inneres Engelchen“ entwickeln – d.h. lernen, eine positive innere
Stimme aufzubauen, Zeitungspapier zerknüllen, in einen Polster schreien, Bewegung
machen, malen/basteln/Lego bauen, etc.)
Ein paar Ideen für den Umgang mit Tränen eines HSK:
· Verständnis zeigen
· Halten und Trösten
· Ablenken (erst NACH Verständnis und Trösten)
· Auszeit (z.B. in einer Kuschelecke, im Bett, etc.)
· Strategien beibringen (ebenfalls ein „Inneres Engelchen“ entwickeln, Tagebuch schreiben,
malen, etc.)
Bei Gefühlen großer Hilflosigkeit als Elternteil im Umgang mit den (starken) Gefühlen deines HSK scheue dich nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen (z.B. in Form einer Elternberatung)!
Ich wünsche dir viel Kraft, Geduld und Zuversicht in der Begleitung deines hochsensitiven (gefühlsstarken) Kindes!
Elisabeth Heller
* alle Fallbeispiele sind anonymisiert
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